Wer verzeiht, gibt Macht auf

 

“Glücklich zu sein bedeutet auch unnützen Ballast loszuwerden. Aber nicht um jeden Preis.” So kam neulich ein Gespräch zu seinem Ende, was mich zu diesem Blogposting inspirierte. Es ging um, vorsichtig und sehr pauschal ausgedrückt, “schwierige Kindheiten”.
Wenn es um unsere Gegenwart geht, spielt unsere Vergangenheit oft eine große Rolle. Zumindest solange wir sie noch nicht in vollem Umfang verstanden, aufgearbeitet und hinter uns gelassen haben. In diesem Kontext wird nicht selten das Verzeihen als eine unabdingbare Handlung genannt, um unseren Blick erfolgreich nach vorne anstatt nach hinten richten zu können. Was dabei aber zunächst bitter aufstößt ist die Fehlannahme, dass mit dem Vergeben auch angeblich alles Geschehene vergessen sein muss. Die gute Nachricht ist: Dem ist nicht so. Denn wir müssen ein paar Dinge unterscheiden:

Verzeihung, Vergebung und Versöhnung sind drei Paar Stiefel

Es gibt nicht umsonst drei unterschiedliche Wörter, die auch etwas Unterschiedliches bedeuten: Wir können verzeihen, vergeben und uns versöhnen. Was davon wir machen möchten, wenn wir eine Verletzung verspüren, bleibt uns überlassen. Dass wir allerdings aktiv werden sollten, ist unbestritten. Vor allem wenn es um kritische Ereignisse wie eine Trennung oder gar eine Traumatisierung durch eine Form von Gewalt geht. Kümmern wir uns in solchen Fällen nicht um unsere Psyche, sind Folgeerscheinungen bis hin zu einer Posttraumatischen Verbitterungsstörung möglich, die uns Flashbacks beschert oder in manchen Situationen nur noch eine beschränkte Realitätskontrolle zulässt. [1] Letzteres lässt uns bestimmte Teile der Traumatisierung wieder erleben, manchmal bewusst, manchmal unbewusst. Diese sogenannten “Intrusions” beschränken sich nicht nur auf das Erlebte, sondern gehen darüber hinaus und werfen ihr Licht mehr oder weniger stark auch auf zukünftige Aufgaben wie z.B. die Lebensbewältigung, den Beruf, die Familie, das soziale Umfeld oder die Konfrontation des Täters oder der Täterin. Kurz gesagt: Manchmal werden wir Opfer unserer Vergangenheit ohne es zu wissen. Eine Gegenmaßname wäre nun zu vergeben, um uns aus den Fesseln der Vergangenheit zu lösen. Verletzungen, die einen Vergebungsprozess erfordern, hängen oft mit langen Grübeleien, Wut, Hass und sogar körperlichen Beschwerden zusammen, die man man aber lindern oder komplett loswerden kann.

Was Vergebung tatsächlich ist

Vergeben bedeutet weder Vergessen, noch Nachsicht, noch Akzeptanz, noch Billigung, noch Begnadigung, noch Verleugnung - und bietet auch keine Rechtfertigung für die Tat. Es ändert sich also nichts am Erlebten. Das Vergeben geschieht zudem nicht von jetzt auf nachher. Am Ende können wir uns jedoch über einen oft längeren Prozess vom verletzenden Ereignis lösen. Vergebung ist also ein Beschluss und keinesfalls ein Einknicken. Wir als Geschädigte gewähren dem oder der Schuldigen Gnade. Dabei ist es unerheblich, ob diese:r sich zur Tat bekennt oder etwas bereut oder nicht. Es geht hierbei ausschließlich um uns. Wir sagen auch nicht “du bist nur ein Mensch, ich vergebe dir”, wir sagen “du bist trotz deiner Taten immerhin ein Mensch, ich vergebe dir” [3] und verlassen somit die Bindung zu dem oder der Täter:in. Mit den Konsequenzen ihrer Handlungen muss diese Person aber weiterhin in vollem Umfang leben.
Dass die moderne Psychologie hier einiges zu bieten hat, zeigt eine Meta-Analyse von Dr. B.W. Lundahl. [2] Betroffene Personen konnten stark von angeleiteten Vergebungsprozessen profitieren und haben in einer anschließenden Befragung mittlere bis starke Effekte auf ihr Wohlbefinden bestätigt. Es ist also kein Mythos, dass man Vergebung nicht unterstützen könnte und sie letztlich deutliche positive Auswirkungen auf das eigene Leben hat. Nur weil man sich das in manchen Fällen nicht vorstellen kann, bedeutet es nicht, dass es unmöglich wäre. Vor 100 Jahren konnte sich schließlich auch kaum jemand vorstellen, dass wir heute große Teile des gesammelten Wissens der Menschheit in unserer Hosentasche herumtragen oder der Hersteller einer ziemlich ungesunden koffeinhaltigen Brause mal über 30 Milliarden Euro Unternehmenswert haben würde. Also: (Fast) alles ist mit dem passenden Wissen möglich.

Was Verzeihen tatsächlich ist

Verzeihen ist der kleine Bruder von Vergeben und kommt bei weniger groben Konfrontationen zum Einsatz. Allerdings gehört hier die Einsicht des Gegenübers dazu. Verzeihen ist immer eine Interaktion, es gehören mindestens zwei Personen aktiv dazu. Jemandem zu verzeihen ist komplett optional, kann also nicht eingefordert werden, und bedingungslos. Der oder die Täter:in ist sich einer Schuld bewusst und bittet um Verzeihung. Vergebung und Verzeihung profitieren beide davon, wenn sich Empathie für die verletzende Person herstellen lässt. Halt, Stop! Nicht aufhören zu lesen. Empathie bedeutet nicht, wie manchmal angenommen, dass wir grundsätzlich positiv mitfühlen. Man kann genauso empathisch sein und das Verhalten des Gegenübers zu einem gewissen Grad nachvollziehen, OHNE dessen Handlungen gut zu finden oder auf irgendeine Weise zu legitimieren.
Zu Verzeihen bedeutet auch Macht aufzugeben - und das ist heilsam, denn sobald ich jemandem verzeihe, gehe ich den Pakt ein, ihm oder ihr die Verletzung nicht weiter vorzuhalten. Ich gebe der entsprechenden Person somit die Möglichkeit die Vergangenheit ruhen zu lassen und mit ihr Scham, Schuldgefühle und Selbstvorwürfe. Auch helfe ich ihr dabei, aus den Fehlern zu lernen und wieder Selbstachtung herzustellen. Verzeihen ist immer ein Akt von Mitmenschlichkeit. [4]

Was ist Versöhnung?

Die Versöhnung ist ein weiterer optionaler Schritt nach der Vergebung. Beide Seiten möchten die entstandenen Belastungen loswerden und gemeinsam weitergehen. Vergebung klappt auch problemlos ohne Versöhnung. Umgekehrt ist aber unmöglich. Eine erfolgreiche Versöhnung stellt verlorenes Vertrauen wieder her, verlangt aber viel Hingabe von beiden Parteien.

Im Bezug auf den ersten Satz dieses Blogpostings - “Glücklich zu sein bedeutet auch unnützen Ballast loszuwerden. Aber nicht um jeden Preis.” - und meinem übergeordneten Thema, der Resilienz, bedeutet das für uns: Wer resilient und aufmerksam, also in diesem Fall möglichst unbeeinflusst von äußeren Umständen, durchs Leben gehen möchte, der kann keinen Ballast aus der Vergangenheit gebrauchen. Er gibt uns nichts. Alles was er macht, ist uns zu Boden zu drücken und dabei Flexibilität und Agilität zu rauben. Unsere Gedanken können nicht frei fließen und unser Wertesystem bekommt durch ihn ein paar blinde Flecken. Also: Lernen zu verzeihen, zu vergeben und dich zu versöhnen ist ziemlich lohnenswert. Im schlechtesten Fall dient es “nur” dem eigenen Wohlbefinden. Im Normalfall profitiert dein gesamtes Umfeld.

Quellen:
[1] Michael Linden, B. Schippan u. a.: Die Posttraumatische Verbitterungsstörung (PTED). Abgrenzung einer spezifischen Form der Anpassungsstörungen. In: Nervenarzt. 75, 2004, S. 51–57.

[2]B. W. Lundahl u. a.: Process-based forgiveness interventions: A meta-analytic review. In: Research on Social Work Practice. 18, 2008, S. 465–478.

[3-4] Frei nach Professorin Boshammer von der Uni Osnabrück

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Michail Berenfeld