Chronische Beschwerden: Frust und Verzweiflung

 

In diesem Beitrag geht es darum, Menschen mit andauernden Beschwerden verstehen zu lernen (Alternative: Youtube). Von chronischen Schmerzen spricht man grob gesagt dann, wenn sie länger als drei bis sechs Monate andauern. Für diesen Text erweitern wir den Begriff auf chronische Beschwerden, wie zum Beispiel Atemprobleme. Die sind auch komplett spaßbefreit, aber per Definition kein Schmerz. Ich spreche leider aus Erfahrung.  

Stimmungsschwankungen und Frust

Die meisten Menschen sind nach einer gewissen Zeit einfach nur noch frustriert. Sie sind von Arzt zu Arzt gerannt, was nicht nur Zeit sondern auch Nerven kostet, und das nicht nur ein paar Monate sondern oft Jahre oder gar Jahrzehnte lang. Auf Dauer stapeln sich verschiedenste Auslöser für negative Gedanken und Gefühle. Durch die verlorene Zeit bekommt man den Eindruck, den Anschluss an das "echte Leben" zu verlieren - oder darüber hinaus auch an den Job. Wenn andere sich erholen, geht man selbst wieder mal zum Arzt oder versucht das dreißigste "Hausmittel", weil man irgendwann beginnt sich an jedem Strohhalm festzuhalten. Im Endeffekt fühlt man sich ausgeliefert und willkürlich eingebremst. Aber da ist noch mehr:

Doppelte Zweifel

Für manche die schlimmste Belastung, vor allem weil sie im Doppelpack daherkommen.

Zunächst der Selbstzweifel. Man sitzt da, trinkt nur noch Wasser und isst Kartoffeln oder Reis, weil das in jedem Fall nicht allergen ist. Man schläft bei offenem Fenster im unbehandelten Vollholz-Bett, damit ja kein Pressspan ausdünsten kann. Man unterstützt Leber und Niere mit verschiedenen Naturheilmitteln, dazu war man über die Jahre in 5 verschieden psychotherapeutischen Programmen dabei, macht mittlerweile Yoga und spielt Querflöte, läuft jeden zweiten Tag durch den Wald und die Atemübungen am Morgen sind längst Routine. Körperlich miserabel geht es einem dummerweise aber immer noch. Da schleicht sich dann der Gedanke ein, ob die Menschen, die einem freundlich gesagt haben, dass es eventuell an der eigenen Einstellung liegt, nicht doch recht haben könnten.

Das ist auch Zweifelpackung Nummer zwei: die Fremdzweifel. Es wäre nicht zum ersten mal, dass ich es erlebe, wie ein Mensch von mehreren Ärzten gesagt bekommt er sei gesund, obwohl es ihm erbärmlich geht. Manche klappern nur die bekannten Standardprozeduren ab, alles andere ist dann einfach psychosomatisch. Thema erledigt. Als Gegenpol gibt es begnadete Medizinerinnen und Mediziner, die sich mit derart einfachen Lösungen nicht zufrieden geben. Die gilt es zu finden. Leider sind diese großartigen Menschen - wie in anderen Berufen auch - oft nur schwer auffindbar, was übrigens auch ziemlich frustrierend sein kann.

Dazu kommt, dass man eventuell von Freunden und Familie ähnliches gesagt bekommt, was die Belastung zusätzlich erhöht. Nicht wenige Betroffene schwingen irgendwann zwischen den zwei Polen "Simuliere ich unwissentlich?" und "Verdammt nochmal, es geht mir scheiße und niemand nimmt mich ernst" hin und her. Wirklich keine schöne Situation.

Der Gewöhnungseffekt

Manchen Menschen geht es körperlich nie richtig gut. Sie schwanken zwischen "Ach, geht halbwegs" und "Ich muss mich sofort hinlegen". "Ach, geht halbwegs" ist für sie irgendwann normal. In diesem Zustand, in dem sich viele wirklich "normale" Menschen schon anfangen Sorgen um die eigene Gesundheit zu machen, gehen sie dann ihrem Tagewerk nach. Alles wird mit einem gewissen Handicap erledigt und verbraucht viel mehr Energie, als es eigentlich müsste. Im Ergebnis merkt man oftmals nicht mehr, dass sich zum Beispiel ein Infekt eingeschlichen hat. Die Warnsignale gehen im allgemeinen Halb-Krank-Zustand unter. Erst wenn es kritisch wird und das Fieber hochschießt oder man halb blind vor Kopfschmerzen ist, wird klar, dass irgendwas nicht stimmt.

Der Willkür ausgeliefert

Oftmals sind die Symptome nicht an klare Auslöser gebunden. Wie auch? Wenn diese bekannt wären, könnte man sich ja darum kümmern. Es kann also sein, dass es einem halbwegs gut geht. Leider nur bis genau 12:24. In diesem Moment wird einem beispielsweise übel und Kopfschmerzen machen sich breit, eine halbe Stunde später fühlt man sich als wäre der Stecker gezogen worden. Im besten Falle befindet man sich dann gerade mitten in einer wichtigen Besprechung oder auf der Hochzeit des besten Freundes. Der eigene IQ fällt auf gefühlt 30 und man möchte sich einfach nur auf den Teppich im Flur legen und schlafen. Geht aber nicht. Es werden also alle Reserven mobilisiert um die Situation irgendwie zu meistern. Klingt unlustig? Ist es auch. Und außerdem der Schulterschluss zum Frust. Man fühlt sich wie bereits erwähnt willkürlich eingebremst. Dazu ist nie klar, wann es einen möglicherweise wieder aus heiterem Himmel umlegt. Im Endeffekt entsteht so ein Grundstress, der den Alltag maßgebend beeinflusst und mit Sicherheit nicht zur Heilung beiträgt.

Schweigen

Manche Betroffene verstecken ihre Beschwerden und beklagen sich nicht mehr. Die Gründe dafür sind vielfältig. Es kann zum Beispiel sein, dass man sich nicht zum 100sten mal erklären möchte. Oder man man hat schlechte Erfahrungen damit gemacht und möchte letztendlich keine gut gemeinten Tipps wie "trink mehr Wasser" oder "Schlaf dich mal aus" mehr hören. Die persönliche Situation ist dazu oft schwer erklärbar, da sich die Krankheitsgeschichte schon sehr lange hinzieht - und somit auch die eigene Auseinandersetzung mit dem Thema. Legt man nun also in mühsamer Kleinarbeit alles nachvollziehbar offen, nur um am Ende zu hören, dass es einem vielleicht nur an Motivation mangelt, kann ziemlich verletzend sein. Solche Situationen möglichst zu vermeiden erscheint folglich logisch. Vielen Betroffenen fehlt es gewiss nicht an der Motivation wieder voll ins Leben einsteigen zu wollen. Um das besser zu verstehen, kann man sich folgendes vor Augen halten: Für diese Menschen erfordert jeder ganz normale Tag moderate bis enorme Disziplin. Fast jede Handlung muss mit dem Willen untermauert werden, sich eben nicht stattdessen lieber hinzulegen und auszuruhen; und wenn es nur simple Tätigkeiten sind, wie die Spülmaschine auszuräumen oder einen Friseurtermin auszumachen.

Stellt euch vor, der durchschnittliche Mensch hat 10 Energiepunkte pro Tag zu vergeben. Diese kann er oder sie verteilen wie gewünscht. Jemand mit chronischen Beschwerden hat möglicherweise nur zwei dieser Energiepunkte; darüber hinaus auch noch mit verminderter Leistung. Diese stückelt er nun auch noch auf, um den maximal möglichen Nutzen aus ihnen zu ziehen. Das erfordert Aufmerksamkeit, Disziplin und ein großes Maß an Wollen. Von fehlender Motivation oder Faulheit also keine Spur.

Alles was ich gerade von mir gegeben habe, muss natürlich - wie immer - nicht universell zutreffen. Jeder Mensch ist anders. Genauso stellen Körper und Psyche eine Einheit dar und selbstverständlich gibt es psychosomatisch begründete Beschwerden. Nur meiner Meinung nach eben nicht in einem derartigen Ausmaß, wie hin und wieder behauptet wird.

Ich hoffe, ich habe zum Verständnis betroffener Personen beitragen können. Für mehr Stoff dieser Art kannst Du gerne auf meinem Youtube Channel vorbeischauen.

Um besser mit Belastungen umgehen zu können, empfiehlt es sich an der eigenen Resilienz zu arbeiten. Oft hilft bereits eine neue Perspektive um den entstandenen Stress zu lindern.

Foto von Elijah O'Donnell

 
Michail Berenfeld